Als ich Mitte der 50er Jahre geboren wurde, lebten rund 2,8 Milliarden Menschen auf der Erde. Seitdem hat sich die Weltbevölkerung fast verdreifacht – auf heute 7,8 Milliarden Menschen. UN-Prognosen zufolge wird sie sich um die nächste Jahrhundertwende bei 11 Milliarden einpendeln. Allerdings nur, wenn bei der Stärkung von Mädchen und Frauen, beim Zugang zu Verhütungsmitteln und selbstbestimmter Familienplanung sowie bei der Gesundheitsversorgung deutliche Fortschritte gemacht werden – insbesondere in Entwicklungsländern.

Kairoer Weltbevölkerungskonferenz 1994: Freie Entscheidung im Fokus

Im letzten Jahrhundert wurden die sozialen, ökonomischen und ökologischen Auswirkungen der wachsenden Weltbevölkerung immer deutlicher. Die Weltgemeinschaft suchte nach Lösungsansätzen.

Im Jahr 1994, bei der Weltbevölkerungskonferenz in Kairo, einigten sich die Vereinten Nationen darauf, den Fokus der Bevölkerungspolitik neu auszurichten: auf die freie Entscheidung über den eigenen Körper und die gewünschte Kinderzahl. Freiwillige und selbstbestimmte Familienplanung rückte in den Mittelpunkt. Das war ein Paradigmenwechsel, denn zuvor war die Vorgehensweise der Bevölkerungspolitik eine ganz andere gewesen. Getrieben von der Angst westlicher Industrienationen vor einem “ungebremsten Bevölkerungswachstum” standen demografische Zielvorgaben im Vordergrund – und nicht die Emanzipation und körperliche Selbstbestimmung jedes Einzelnen. Die bisherige politische Perspektive hatte dramatische Menschenrechtsverletzungen zur Folge. So kam es zum Beispiel in Ländern wie China oder Indien zu erzwungenen Schwangerschaftsabbrüchen oder Zwangssterilisationen.

In Kairo kam der fundamentale Wendepunkt. Die Vereinten Nationen rückten von demografischen Zielvorgaben ab und sprachen sich für die freie Entscheidung über Familienplanung aus. Und siehe da: Frauen müssen gar nicht gezwungen werden, weniger Kinder zu bekommen. Das Gegenteil ist der Fall, denn viele Frauen wollen verhüten, können es aber nicht.

Ungedeckter Bedarf an Familienplanung

Der Youth Truck der DSW fährt auch in die abgelegendsten Gebiete Ugandas, um junge Menschen mit Informationen zu Sexualität und Verhütung zu erreichen.

Der sogenannte „ungedeckte Bedarf an Familienplanung“ bedeutet, dass Menschen, die gerne verhüten möchten, dies nicht tun können. Ihnen mangelt es entweder an den Mitteln zur Verhütung oder an dem Zugang zu ihnen. Frauen erleben häufig, dass der Ehemann, der Vater oder die Schwiegermutter die Nutzung von Kontrazeptiva verbietet. Oft scheitert es aber auch schlichtweg am nicht vorhandenen Wissen über die Anwendung oder am notwendigen Geld, um Verhütungsmittel zu kaufen. Am stärksten trifft es die Mädchen und Frauen, insbesondere in Entwicklungsländern. Über 214 Millionen von ihnen sind noch heute weltweit von diesem ungedeckten Bedarf betroffen. Ihnen wird damit verwehrt, über ihren Körper die Anzahl ihrer Kinder sowie den zeitlichen Abstand zwischen den Geburten zu entscheiden. Die Folge: In Entwicklungsländern sind zwei von fünf Schwangerschaften ungewollt . Bei diesen Frauen sinkt die Chance auf Bildung, ein eigenes Einkommen und (finanzielle) Unabhängigkeit. Das beeinträchtigt auch die wirtschaftliche Entwicklung ihres Landes. Freiwillige Familienplanung muss einen höheren Stellenwert bekommen, sowohl in globalen Bemühungen als auch in der Politik der einzelnen Länder.

Von Kairo nach Nairobi: Wo wir heute stehen

25 Jahre nach den wegweisenden Beschlüssen der Kairoer Weltbevölkerungskonferenz, im Jahr 2019, traf sich die Weltgemeinschaft erneut – diesmal in Nairobi. Die Konferenz hatte zum Ziel, den politischen Willen von damals zu bekräftigen und finanzielle Verpflichtungen zu mobilisieren, um das Aktionsprogramm von Kairo vollständig umzusetzen. Das heißt, eine selbstbestimmte Familienplanung für ALLE zu ermöglichen. In der Zwischenzeit waren viele Veränderungen auf den Weg gebracht worden: 2004 wurde das Recht auf Familienplanung von der Menschenrechtskommission erneut bestätigt, es wurden viele Programme und Initiativen gegründet und der Zugang zu einer größeren Auswahl an Verhütungsmitteln verbesserte sich weltweit.

Die menschenrechtsbasierte Bevölkerungspolitik, die in Kairo beschlossen wurde, zeigte Wirkung: Die  weltweite durchschnittliche Kinderzahl pro Frau  ist von drei Kindern zu Beginn der 90er Jahre auf heute 2,4 Kinder gesunken.  Das Bevölkerungswachstum hat sich verlangsamt. Doch noch immer hat weltweit jede vierte Frau im gebärfähigen Alter, die eine Schwangerschaft verhüten möchte, keine Möglichkeit dazu. In Afrika südlich der Sahara ist es sogar jede Zweite – der ungedeckte Bedarf an Familienplanung ist dort am größten.

Die Gründe dafür sind vielfältig: unzureichende Gesundheitsversorgung, ungedeckter Bedarf an Familienplanung und fehlende soziale Absicherung. Zudem steigt die Nachfrage für Kontrazeptiva stetig durch die immer größer werdende Jugendgeneration. Und schließlich  lassen sich viele ungewollte Schwangerschaften auf ein vielschichtiges Problem zurückführen, nämlich die fehlende Gleichberechtigung.

Wie Gleichberechtigung und Kinderzahl zusammenhängen

Genitalverstümmelung an Mädchen wird noch immer vielfach praktiziert.

Die systematische Benachteiligung von Mädchen und Frauen trägt in ihren vielen Formen dazu bei, dass Frauen mehr Kinder bekommen, als sie möchten – und das oft viel früher, als sie es sich wünschen. Oft auch früher, als ihr Körper überhaupt dazu bereit ist. Eine der Hauptforderungen der Weltbevölkerungskonferenz im vergangenen Jahr in Nairobi ist daher die Abschaffung schädlicher Praktiken an Mädchen und Frauen sowie ein besserer Schutz vor sexualisierter Gewalt. Das ist ein deutliches und überaus wichtiges Signal. Das Recht, frei über den eigenen Körper, die Sexualität und die Kinderzahl zu entscheiden, wird bei schädlichen Praktiken wie Frühverheiratungen  oder weiblicher Genitalverstümmelung in höchstem Maße verletzt. Vielerorts gibt es Gesetze dagegen, doch sie alleine reichen nicht: Ein gesellschaftliches Umdenken muss herbeigeführt werden. Ohne die Umsetzung reproduktiver Rechte und die Gleichstellung von Frauen und Männern auf allen Ebenen ist keine selbstbestimmte und freiwillige Familienplanung möglich.